Ahrenshoop, 25.08.2015
Werden und Vergehen – die Zeit, ein Rätsel
Gerd Fußmann
Ein Rauch verweht,
Ein Wasser zerrinnt,
Eine Zeit vergeht,
Eine neue beginnt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Dieser Vierzeiler von Joachim Ringelnatz, den ich meinem Vortrag vorangestellt habe, ist meines Erachtens eine ebenso schöne wie zutreffende Aussage über die Zeit. Etwas wird verändert, vergeht und gehört damit der Vergangenheit an, dann kommt etwas Neues und ist damit die Zukunft. Aber wann und wo ist die Gegenwart. Ist dieser Augenblick, den wir jetzt gemeinsam erleben, nun die Gegenwart, das Präsens? Ja, gibt es diese Gegenwart überhaupt? Denn bereits nach jedem noch so kleinen Bruchteil einer Sekunde ist sie doch schon zur Vergangenheit geworden!
Falls Sie sich mit diesen oder ähnlichen Fragen auch schon einmal befasst haben, befinden Sie sich in bester Gesellschaft. Zu allen Zeiten ist das Phänomen der Zeit den Menschen ein Rätsel gewesen. So ist uns vom heiligen Augustinus der Ausspruch überliefert: "Werde ich danach gefragt, was die Zeit ist, so weiß ich es. Will ich es aber dem Frager erklären, so weiß ich es nicht." Seitdem scheint man in der allgemeinen Beantwortung der Frage nicht sehr viel weiter gekommen zu sein. So liest man beispielsweise im Brockhaus-Lexikon Folgendes über die Zeit: Das Nacheinander der Dinge, die Abfolge der Geschehnisse, erfahrbar als Aufeinanderfolge sowie Dauer von Veränderungen und Ereignissen in Natur und Geschichte. Das klingt gescheit, lehrt uns aber letztlich nichts wirklich Neues. Zum Beispiel wissen wir immer noch nicht, ob es nun die Gegenwart gibt oder nicht.
Auch in meinem heutigen Vortrag werde ich auf diese Frage keine Antwort geben, obwohl sich einige kluge Philosophen und Wissenschaftler hierzu konkret geäußert haben. So erklärt etwa Ilya Prigogine, der große Physikochemiker, Philosoph und Nobelpreisträger, der viele wissenschaftliche Artikel und Bücher über die Zeit verfasst hat, dass die Gegenwart eine Zeitspanne von etwa 3 Sekunden umfasst. Das mag durchaus eine sinnvolle Definition sein, aber nichts desto weniger erscheint sie mir willkürlich: warum sind es nicht fünf Sekunden oder nur eine? Auch auf viele andere Fragen im Zusammenhang mit der Zeit werde ich die Antwort schuldig bleiben müssen. Ich will aber versuchen zu erklären, was ein – sagen wir mal nicht untypischer – Physiker mit dem Begriff Zeit verbindet.
Um Ihnen zunächst eine Vorstellung davon zu geben, wie unterschiedlich die Zeitvorstellungen der Menschen sind und dass Menschen aus verschiedenen Kulturen ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit haben können, möchte ich Ihnen ein Zitat des Südsee-Häuptlings Tuiaviis vortragen. Tuiaviis hatte in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts Europa besucht und hier Vieles sehr merkwürdig gefunden, unter anderem auch die Beziehung des Papalagis, so nennt er den Europäer, zur Zeit.
Der Papalagi (Europäer) ist immer unzufrieden mit seiner Zeit, und er klagt den großen Geist dafür an, dass er nicht mehr gegeben hat. Ja, er lästert Gott und seine große Weisheit, indem er jeden neuen Tag nach einem ganz gewissen Plane teilt und zerteilt. Er zerschneidet ihn geradeso, als führe man kreuzweise mit einem Buschmesser durch eine weiche Kokosnuss. Alle Teile haben ihren Namen: Sekunde, Minute, Stunde. Die Sekunde ist kleiner als die Minute, diese kleiner als die Stunde: alle zusammen machen die Stunden.
Das ist eine verschlungene Sache, die ich nie ganz verstanden habe, weil es mich übel anmacht, länger als nötig über solcherlei kindische Sachen nachzusinnen. Doch der Papalagi macht ein großes Wissen daraus. Die Männer, die Frauen und selbst Kinder, die kaum auf den Beinen stehen können, tragen im Lendentuch, an dicke metallene Ketten gebundene und über den Nacken hängend oder mit Lederstreifen ums Handgelenk geschnürt, eine kleine, platte, runde Maschine, von der sie die Zeit ablesen können. Dieses Ablesen ist nicht leicht. Man übt es mit den Kindern, indem man ihnen die Maschine ans Ohr hält, um ihnen Lust zu machen.
In der Tat ist es so, dass hier die vom Häuptling angesprochene Zerteilung der Zeit – und nichts anderes machen ja die Uhren – nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der modernen Naturwissenschaft eine große Rolle spielt. Abgesehen von Sand- und Wasseruhren, sind die meisten Uhren durch einen periodischen Gang gekennzeichnet. Es schwingt entweder ein Pendel in einer Standuhr, eine Unruhe in einer Taschenuhr und seit etwa 40 Jahren ein Quarzkristall in den Armbanduhren. Besonders gleichförmig schwingen die Moleküle und Atome, was auf den Bau der extrem genauen Moleküluhren und schließlich, als vorläufige Krone der Entwicklung, auf die noch genaueren Atomuhren führte. In der Tat ist die Zeitmessung mit solchen Uhren inzwischen das Genaueste, was die Wissenschaft liefern kann. Die Zeit lässt sich bis auf 17 wesentliche Dezimalstellen angeben.
Aber auch schon lange, bevor der Mensch die Uhr erfand, wurde die Zeit – auf natürliche Weise – zerteilt: Die Erde dreht sich innerhalb von 24 Stunden um ihre Achse und schenkt uns so den Wechsel zwischen Tag und Nacht, der Mond umkreist die Erde periodisch in einem Monat, und ebenso umkreist die Erde die Sonne innerhalb eines Jahres und lässt uns so immer wieder die Abfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter erleben.
Entwicklung des Zeitbegriffs in der Neuzeit
Wie bereits erwähnt, haben sich die Menschen schon immer Gedanken über das Wesen der Zeit gemacht. Besonders die griechischen Philosophen und die Theologen des Mittelalters haben das hiermit verbundene Geheimnis lösen wollen. Aber aus naturwissenschaftlicher Sicht entwickeln sich die wichtigsten Begriffe erst mit Beginn des 17. Jahrhunderts, das Jahrhundert von Isaak Newton
und Gottfried Wilhelm Leibniz. In der Zeit davor wurden nicht selten Scheinprobleme diskutiert, da der Grenzwertbegriff der Mathematik noch nicht ausgearbeitet war. Erst auf der Grundlage der von Newton und Leibniz entwickelten Infinitesimalrechnung ist man in der Lage, so wesentliche Begriffe wie Geschwindigkeit und Beschleunigung korrekt zu definieren. Was sagt uns nun aber der große Newton über die Zeit? In seinem wichtigen
Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) behandelt er Zeit und Raum im Zusammenhang und macht hierüber folgende Aussagen:
- "Die absolute, wahre mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand.…
- Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich… "
Heute sehen die Physiker "Zeit" und "Raum" sehr verschieden von Newton. Sie sind nämlich davon überzeugt, dass Zeit und Raum ohne Materie sinnleere Begriffe sind. Im Gegensatz zu Newton, der davon ausging, dass Zeit und Raum auch vor der Schöpfung der Welt schon existent waren, sind wir heute der Auffassung, dass beide erst mit der Bildung der Materie im Urknall vor etwa 14 Milliarden Jahren entstanden sind. Was vor dem Urknall war, darüber vermögen wir auch heute nichts wirklich Belastbares zu sagen. Unsere Einstellung dazu ist eigentlich ganz ähnlich wie die des bereits erwähnten Augustinus, der sich 400 n. Chr. ebenfalls Gedanken über "die Zeit davor" gemacht hat. Er fragte sich: "Was hat Gott getan, bevor er die Welt schuf?" Unmöglich war ihm die Vorstellung, dass Gott ewige Zeit müßig gewesen sei, um dann eines Tages, sozusagen aus einer plötzlichen Laune heraus, die Welt zu erschaffen. Augustinus ist schon damals – allerdings aus einer ganzen anderen Fragestellung heraus – auf die, wie wir meinen, richtige Lösung gekommen: Auch die Zeit entstand erst mit der Erschaffung der Welt.
Der Zeitpunkt der Erschütterung der Newton'schen Zeitauffassung lässt sich ziemlich genau angeben; es war das Jahr 1905, in dem Albert Einstein seine Spezielle Relativitätstheorie entwickelt hat. Vorher, ab etwa 1890, wurden von Michelson, zunächst in Potsdam und später in den USA zusammen mit Moorley sehr präzise Messungen zur Lichtgeschwindigkeit durchgeführt. Sie fanden heraus, dass, gleichgültig, ob eine Lichtquelle sich bewegt oder ruht, das Licht sich immer mit der gleichen Geschwindigkeit ausbreitet. Wenn Sie also beispielsweise in Ihrem Auto sitzen und schalten, bevor Sie abfahren, den Scheinwerfer ein, so sieht ein ferner Beobachter das Licht mit 300 000 km/s auf sich zukommen. Man möchte meinen, dass sich diese Geschwindigkeit verändern würde, wenn Sie den Scheinwerfer während der Fahrt einschalten, und zwar sollte nach unserer sonstigen Erfahrung (wenn wir etwa einen faulen Apfel aus dem fahrenden Auto werfen) ein in Fahrtrichtung stehender Beobachter eine Erhöhung der Geschwindigkeit feststellen. Dem ist aber nicht so, die Lichtgeschwindigkeit bleibt vielmehr die gleiche.
Die Lichtgeschwindigkeit ist darüber hinaus die größtmögliche Geschwindigkeit, und materielle Körper können sich ihr zwar nähern, aber sie nie erreichen. (Aus diesem Grunde scheint die Lichtgeschwindigkeit auch die einzige Höchstgeschwindigkeit zu sein, die auf deutschen Autobahnen anerkannt wird.) Einstein zog aus der experimentell gesicherten Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sehr wichtige Folgerungen. Unter anderem kam er zu dem Schluss, dass der Begriff der Gleichzeitigkeit zu revidieren sei. Bewegen sich nämlich zwei Systeme (z.B. zwei Züge) zueinander, so können zwei Ereignisse in einem System als gleichzeitig wahrgenommen werden, im anderen dagegen zeitlich getrennt erscheinen.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erläutern. Stellen Sie sich vor, in der Mitte eines zunächst ruhenden Raumschiffs werde ein kurzer Lichtblitz ausgelöst. Am Bug und Heck befinden sich Sensoren, die beim Eintreffen des Lichts zwei Uhren (die man vorher synchronisiert hat) anhalten. Man stellt fest, dass beide Uhren die gleiche Zeit anzeigen, so dass die beiden im Raumschiff wahrgenommenen Ereignisse "Lichtblitz am Heck" und "Lichtblitz am Bug" gleichzeitig sind. Nun lenken wir mit zwei halbdurchlässigen Spiegeln am Heck und Bug ein Teil des dort eintreffenden Lichtes seitlich nach außen, so dass ein auf der Erde ruhender Beobachter ebensolche Messungen vornehmen kann. Auch er wird feststellen, dass der Lichtblitz zur gleichen Zeit am Heck und Bug eintrifft.
Jetzt aber wiederholen wir das Ganze, wenn das Raumschiff mit hoher Geschwindigkeit am irdischen Beobachter vorüberfliegt. Im Innern des Raumschiffs wird man – wegen der Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung der Lichtquelle – wieder Gleichzeitigkeit der Ereignisse registrieren. Der irdische Beobachter jedoch wird keine Gleichzeitigkeit mehr feststellen, da nun während der Ausbreitungsphase des Lichts der Bug sich von der Lichtquelle entfernt (Distanz vergrößert sich), das Heck dagegen darauf zueilt (Distanz wird kleiner). Er wird also zunächst den Lichtreflex vom Heck wahrnehmen und erst später den vom Bug registrieren.
In der Konsequenz sind Raum und Zeit nicht unabhängig voneinander, sie bilden vielmehr eine vierdimensionale Einheit, die sogenannte Raumzeit. Diese vierdimensionale Raumzeit wurde von dem Mathematiker W. Minkowski im Jahre 1908 auf der Jahresversammlung der deutschen Naturwissenschaftler und Mediziner den staunenden Anwesenden mit einem aus heutiger Sicht vielleicht etwas pathetisch klingenden Satz vorgestellt: "Von Stund an sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union von beiden soll Selbständigkeit bewahren."
Zwei wesentliche Ergebnisse, die aus der Relativitätstheorie hervorgehen, sind die folgenden: In einem bewegten Bezugssystem (Raumschiff) verkürzen sich alle Längen, und alle Uhren verlangsamen sich. Ein Beobachter im Raumschiff ist allerdings nicht in der Lage, diese Veränderungen festzustellen, da sich alle seine Maßstäbe und Uhren in gleicher Weise verändern. Für diese Behauptungen existieren zahlreiche experimentelle Belege, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. Ich will aber doch erwähnen, dass eine sehr genaue Bestätigung der sogenannten Zeitdilatation, also der Verlangsamung bewegter Uhren, im Jahre 2007 am MPI für Kernphysik in Heidelberg gefunden wurde indem man Atome auf eine Geschwindigkeit von 10 000 km/s (1/30 der Lichtgeschwindigkeit) brachte und dabei die Änderung der von ihnen ausgestrahlten Frequenz beobachtete.
Lassen Sie uns aber noch einen kühnen Blick in die ferne Zukunft richten, wenn die Menschheit vielleicht über wirklich schnelle Raumschiffe verfügt, mit denen sie auch zu fernen Sternen reisen kann. Betrachten wir nun das klassische Zwillingspaar Castor und Pollux im Jahr 30 000. Beide seien 20 Jahre alt. Pollux ist der Reiselustigere von beiden und macht sich auf den Weg zum Stern Sirius, dessen Entfernung von der Erde 9 Lichtjahre misst. Sein Raumschiff ist aber auch sehr schnell und bewegt sich mit 3/4 der Lichtgeschwindigkeit. Nach irdischer Zeit vergehen dann (9/(3/4)) = 12 Jahre für die Hinreise und nochmals 12 für die Rückreise, so dass er insgesamt 24 Jahre unterwegs ist. Nach den im Raumschiff mitgeführten Uhren sind während der Reise aber nur 16 Jahre (genauer 24 (1- (3/4)^2)^1/2 = 15,87) vergangen, so dass beim Wiedersehen Castor 44 Jahre, Pollux aber erst 36 Jahre alt ist.
Gegen dieses sogenannte "Zwillingsparadoxon" ist ein von Medizinern und Biologen oft vorgebrachter Einwand, dass die Uhren zwar langsamer gehen mögen, aber biologisch altere der Mensch doch immer gleich schnell. Dieser Einwand geht jedoch ins Leere, denn der menschliche Körper ist, wie alle Materie, letztlich aus Atomen zusammengesetzt. Und Atome sind - wie schon eingangs erwähnt - auch Uhren. Wenn sich nun aber die Atome der Menschen mit dem Raumschiff bewegen, dann schwingen sie alle im gleichen Maße langsamer und alle Wechselwirkungen untereinander sind ebenso verlangsamt. Das heißt aber nichts anderes, als dass auch alle biologischen Prozesse verlangsamt sind. Nochmals zusammengefasst: Eine für alle gültige, absolute Zeit, von der Newton spricht, gibt es eigentlich nicht. Wir hier in diesem Raum haben zwar alle die gleiche Zeit, aber Personen, die mit einem Flugzeug über uns hinweg fliegen, haben eine etwas andere.
Dies alles ist schon kompliziert genug, aber es kommt noch verrückter: Auch das Gravitationsfeld beeinflusst die Zeit. In der Nähe von schweren Körpern, z.B. der Erde oder der Sonne, verlangsamt sich die Zeit, und in einem sogenannten Schwarzen Loch, wie es im Zentrum unserer Milchstraße nachgewiesen wurde, bleibt sie sogar völlig stehen. Die Zeit hört dort auf zu existieren. Diese Behauptungen ergeben sich aus Einsteins Allgemeiner Relativitäts-Theorie, die er in Berlin im Jahre 1915 ausgearbeitet hat. Auch dieser Einfluss der Schwerkraft auf die Zeit konnte durch zahlreiche Experimente bestätigt werden. So konnte man mit zwei der schon erwähnten Atomuhren nachweisen, dass die eine etwas schneller „tickt“, wenn man sie im Schwerefeld der Erde um nur 30 cm anhebt – genau so, wie es von Einstein vorhergesagt wurde. Dieser Einfluss muss übrigens bei der Satelliten- Navigation (GPS = Global Positioning System) unbedingt berücksichtig werden. Ohne diese sogenannten relativistischen Korrekturen (Satellit bewegt sich und befindet sich in unterschiedlicher Höhe) würden die Ergebnisse bis zu einigen Kilometern falsch ausfallen. Andererseits ergibt sich daraus auch die Möglichkeit, die Oberfläche der Erde sehr genau zu vermessen und darüber hinaus auch die Erdkruste auf Dichtevariationen zu untersuchen, die Hinweise auf Ölfelder oder Erzlager geben. Untersuchungen dieser Art sind zur Zeit höchst aktuell.
Nach Einstein kommt es in der Nähe von materiellen Körpern zu einer Krümmung der vierdimensionalen Raumzeit, eine geometrische Verformung, die sich keiner mehr anschaulich vorstellen kann. Dennoch besitzt unser menschliches Gehirn die erstaunliche Fähigkeit, diese komplizierten Verhältnisse mit Hilfe der Mathematik wenn schon nicht begreifbar, so doch berechenbar zu machen.
Lassen wir zum Abschluss dieses relativistischen Teils des Vortrags noch einmal Einstein selbst zu Wort kommen:
"Wenn ich mich frage, woher es kommt, dass gerade ich die Relativitätstheorie aufgestellt habe, so scheint es mir an folgendem Umstand zu liegen: der normale Erwachsene denkt über Raum und Zeit kaum nach. Das hat er nach seiner Meinung bereits als Kind getan. Ich hingegen habe mich geistig derartig langsam entwickelt, dass ich erst als Erwachsener anfing, mich über Zeit und Raum zu wundern. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Problematik eingedrungen als die normal veranlagten Kinder."
Der thermodynamische Zeitpfeil
Alles bisher Betrachtete ist zwar interessant und wissenschaftlich auch relevant, aber für das tägliche Leben nahezu bedeutungslos, da die Effekte sehr klein sind. Das trifft gerade auf einen anderen Aspekt der Zeit nicht zu, dem ich mich jetzt zuwenden möchte: die Richtung der Zeit. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wieso können wir zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden? Sie mögen vielleicht erstaunt sein, aber hinter dieser Frage verbirgt sich ein keineswegs triviales Problem. Das Problem rührt daher, dass es in den Grundgleichungen der Physik keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. Dies gilt sowohl im Makrokosmos wie auch im Mikrokosmos, der Welt der Atome und Moleküle. Diese Welt der Moleküle und Atome wird durch die sogenannte Schrödinger-Gleichung beschrieben, in der die Zeit als ein Parameter auftritt. Wenn wir hierin die Zeit durch das Symbol t charakterisieren, dann hat diese Gleichung auch für (-t) eine Lösung. Es gibt also keinen Vorzugscharakter der Zeit, (+t) und (-t) sind gleichwertig. So ist es auch im Makrokosmos, der durch die Newtonschen Gleichungen beschrieben wird.
Betrachten wir etwa die Erdbahn und stellen uns vor, bei der Entstehung des Planetensystems seien die Verhältnisse gerade so gewesen, dass die Erde zwar die gleiche Geschwindigkeit aber mit entgegengesetztem Vorzeichen erhalten hätte. Dann würde sie die Sonne in entgegengesetzter Richtung umlaufen. Die Bahn wäre aber die gleiche Ellipse, und auch die Zeit für einen Sonnenumlauf bliebe unverändert 1 Jahr. Dass aber mit dieser Periode auch ein Alterungsprozess einhergeht, darüber machen diese Gleichungen keine Aussagen. Wie kommt es nun also, dass wir dennoch zwischen Vergangenheit und Zukunft sehr wohl unterscheiden können?
Um uns der Antwort zu nähern, betrachten wir ein Video, das beispielsweise ein rohes Ei zeigt, wie es vom Tisch fällt und anschließend als gelb-weißer Brei mit zerbrochener Schale am Boden liegt. Lassen wir den Film rückwärts laufen, dann sehen wir, wie sich der Brei wieder zu einem Ei formt und sich im Anschluss daran vom Boden nach oben auf den Tisch bewegt. Dass dies nicht die Realität ist, wissen wir sofort. Wir können also entscheiden, ob ein Film vorwärts oder rückwärts läuft. Ja, so ist es in Regel. Aber Vorsicht! Nehmen wir nämlich einen sehr viel einfacheren Videofilm, wie beispielsweise ein Ausschnitt von einem Billardspiel, wird es schwieriger. Ist der Ausschnitt kurz genug, so dass wir nicht mehr sehen, wie die Kugeln infolge der Reibung mit dem grünen Tuch zur Ruhe kommen, so ist es nicht mehr möglich zu entscheiden, ob der Film nun vorwärts oder rückwärts läuft. Dabei denke ich jetzt zunächst an das französische Billard, wo nur drei Kugeln im Spiel sind. Wir sehen da etwa, wie eine Kugel zunächst die erste und dann die zweite trifft. Rückwärts betrachtet ergibt sich ebenfalls ein durchaus glaubhafter Bewegungsablauf. Wir stellen also fest, bei sehr einfachen Systemen mit einer, zwei oder auch noch drei Kugeln ist es nicht möglich, zwischen Zukunft und Vergangenheit zu unterscheiden.
Nun wollen wir das Gleiche wiederholen mit einem amerikanischen Pool- Billard, bei dem 16 Kugeln im Spiel sind. Von diesen werden bei Spielbeginn 15 Kugeln in einem Dreieck auf dem Billardtisch angeordnet. Mit der 16. Kugel stößt man dann in diesen Haufen hinein und schon nach dem ersten Stoß gibt es in aller Regel ein großes Durcheinander. Lassen wir nun ein Video, was wir von diesem Stoß aufgenommen haben, rückwärts laufen, dann bewegen sich alle Kugeln auf magische Weise rückwärts, stoßen dabei u.U. mehrmals miteinander und mit der Bande und bilden zum guten Schluss wieder das ursprüngliche, geordnete Dreieck. Wir wissen sofort, dass wir diesen Film rückwärts haben laufen lassen. Der Vergleich zwischen dem französischen und amerikanischen Billard gibt uns einen Hinweis, was für das Zustandekommen des sogenannten Zeitpfeils, der also die Reihenfolge "erst die Vergangenheit, dann die Zukunft" auszeichnet, wesentlich ist. Es ist schlicht die Zahl der Kugeln.
Ähnlich erklärt sich auch der Zeitpfeil am Beispiel des diffundierenden Parfums. Stellen Sie sich vor, ich öffne hier eine große Parfumflasche, dann entweichen die Moleküle in den Raum und verteilen sich im Laufe der Zeit gleichmäßig über ihn. Der Anfangszustand, in dem alle Moleküle in der Flasche waren, ist deutlich verschieden von dem Endzustand, wenn sie sich über den gesamten Raum verteilt haben. Man kann diese Beobachtung auch so deuten, dass die Natur von sich aus einen Zustand höher Unordnung anstrebt. Der Zustand wo alle Moleküle in der Flasche sind, sich also in einem kleinen Raumgebiet aufhalten, ist hoch geordnet, während der Endzustand, wo sie sich über den ganzen Raum gleichmäßig verteilt haben, weniger geordnet ist. Grundsätzlich verbietet nun kein Naturgesetz, dass alle im Raum verteilten Moleküle wieder dahin zurückfliegen, wo sie herkamen und sich allesamt nach einiger Zeit wieder in der Flasche versammeln. Das wäre dann die Umkehrung des Zeitpfeils. Dies ist nicht verboten, und nach den Gesetzen der Mechanik passiert es sogar immer wieder einmal, aber es ist äußerst unwahrscheinlich. Man kann abschätzen, wie häufig so eine Umkehrung stattfindet. Typische Zeitspannen sind viele Millionen Weltalter, und die Welt ist ja schon 14 Milliarden Jahre alt.
Diese Beispiele verdeutlichen auch den Unterschied zwischen einem Naturgesetz und einem mathematischen Satz. Ein mathematischer Satz ist nur richtig, wenn er ohne Ausnahme gilt. Von den Grundgleichungen der Physik (Schrödinger- + Maxwell-Gleichungen, bzw. Quanten-Elektrodynamik) haben wir eine fast ähnlich hohe Meinung. Dagegen kommt den zwei Hauptsätzen der Thermodynamik keine derartige fundamentale Aussagekraft zu, denn diese sind auf Grund von Beobachtungen und Erfahrungen gewonnen worden. Der erste dieser Sätze wurde 1841 von dem deutschen Arzt Robert Meier als These formuliert. Er ist im wesentlichen nichts anderes als eine Energiebilanz und besagt, dass Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann, wobei Wärme auch eine Form der Energie darstellt. Man kann Energie nur von einer Form in eine andere umwandeln. So wird beispielsweise in einem Elektroauto elektrische Energie in kinetische Energie der Bewegung umgewandelt. Ähnlich dazu wird in einem Kohleofen die in der Kohle gespeicherte chemische Energie bei der Verbrennung in Wärme verwandelt. Der zweite Hauptsatz schränkt allerdings die Umwandlungsmöglichkeiten wieder ein: Nicht alle Prozesse, die mit dem ersten Hauptsatz verträglich sind, kommen in der Natur auch wirklich vor. Er wurde 1854 von Rudolph Clausius aufgestellt und ist bis heute einer wichtigsten Sätze der gesamten Naturwissenschaft. In seiner von Clausius stammenden Formulierung lautet er: „Bei jedem natürlichen Vorgang nimmt die Entropie
zu“. Dabei hat er den Begriff der Entropie auch selbst definiert als den Quotienten der reversibel zugeführten Wärme und der absoluten Temperatur. Mit diesem ziemlich unanschaulichen Begriff hat man sich schon damals schwer getan und auch heute noch macht er den Studierenden große Verständnisschwierigkeiten. Das liegt u.a. daran, dass es kein Gerät gibt, mit dem man die Entropie eines Körpers messen könnte. Clausius selbst hat die Entropie am Beispiel schmelzender Eiswürfel in einem Wasserglas erläutert. Während das Eis schmilzt erhöht sich laufend die Entropie im gesamten Glas und erreicht am Ende des Schmelzvorganges ein Maximum. Rein energetisch betrachtet, könnte es nun auch zur Umkehrung des Prozesses kommen, so dass sich Teile des Wassers abkühlen und wieder zu Eis erstarren, während andere Teile die frei werdende Energie aufnehmen und sich erwärmen, dann würde die Entropie abnehmen – aber das hat noch nie jemand beobachtet!
Etwa 40 Jahre nach Clausius hat der Österreicher Ludwig Boltzmann uns ein tieferes Verständnis für den Entropiebegriff beschert indem er die Dinge aus mikroskopischer Sicht, also der Welt der Moleküle und Atome betrachtete. Er erkannte, dass die Entropie (S) mit der Zahl der möglichen mikroskopischen Zustände (w) anwächst (S = k log(w)) und damit eine Aussage über den Grad der Unordnung eines Systems macht. Dank seiner außergewöhnlichen mathematischen Begabung gelang es ihm, das sogenannte H-Theorem abzuleiten, das in der Tat die Zunahme der Entropie durch Rückführung auf die Gesetze der Mechanik zu beweisen schien. Überglücklich über diesen Erfolg, dachte er zunächst, damit alles erklärt zu haben. Aber dann kamen die Kritiker, vor allem Henri Poincaré in Frankreich und der Berliner Mathematiker Ernst Zermelo. Sie wiesen nach, dass das Ergebnis unmöglich mit den präzisen Gesetzen der Mechanik im Einklang sein könne, denn danach kehrt jedes Ensemble von Teilchen irgendwann wieder zu dem Zustand zurück, den es früher schon einmal angenommen hat (Zermeloscher Wiederkehr-Satz). In der Tat zeigte die genaue Analyse der Boltzmannschen Ableitung, dass er dabei eine Annahme gemacht hatte (Molekulares Chaos), die zwar plausibel, aber eben nicht immer gültig ist. In der Konsequenz nimmt die Entropie nur im zeitlichen Mittel zu, nicht aber zu jedem Zeitpunkt. Damit kann man in der Praxis gut leben, denn die Ausnahmen sind – wie schon zuvor erwähnt– in der Regel äußerst selten und extrem kurzzeitig. Letztlich aber haben wir damit das Zustandekommen des Zeitpfeils bei den chemischen und biologischen Prozessen recht gut verstanden.
Die vorausgehenden Betrachtungen lehren uns auch, dass neue Eigenschaften aus dem Zusammenwirken vieler Teilchen hervorgehen können. Diese Eigenschaften wohnen den beteiligten Teilchen jedoch nicht inne. Das trifft zum Beispiel auf die Begriffe Temperatur und Entropie zu, die nur auf ein Ensemble von Molekülen sinnvoll angewandt werden können. So entsteht die geschilderte Zeitrichtung aus dem statistischen Verhalten der Atome, obwohl die Zeitrichtung keine Eigenschaft der Atome ist. Ebenso ergibt sich z.B. das Leben oder das Bewusstsein des Menschen aus dem Zusammenwirken der Atome, ohne dass den einzelnen Atomen die Eigenschaften Leben oder Bewusstsein beigemessen werden kann.
Der kosmologische Zeitpfeil
Der zuvor besprochene Zeitpfeil wird heutzutage genauer als thermodynamischer Zeitpfeil bezeichnet. Er regelt die chemischen Abläufe und damit auch die Alterungsprozesse und bedingt insgesamt, dass die Zukunft von der Vergangenheit verschieden ist. Aber was gilt für das Universum insgesamt? Clausius war seinerzeit der Auffassung gewesen, dass hierauf ebenfalls der zweite Hauptsatz der Thermodynamik angewandt werden könne. So formulierte er in seiner Zusammenfassung des 1. und 2. Hauptsatzes : „ Die Energie des Universums ist konstant, die Entropie des Universums strebt immer einem Maximum zu“. Aber das sagte er zu einer Zeit, als man vom Urknall noch keine Ahnung hatte. Heute wissen wir, unser Universum ist vor etwa 14 Milliarden Jahren entstanden. Zunächst war es winzig klein (möglicherweise kleiner als ein Atom), hat sich aber in der zurückliegenden Zeit gewaltig (auf mehr als 14 Milliarden Lichtjahre) ausgedehnt. Diese Ausdehnung passt mit einer stetigen Zunahme der Entropie zusammen, lässt aber dennoch Fragen offen. Zunächst natürlich: wie konnte es überhaupt zu einem Anfangszustand mit einem Minimum der Entropie kommen? Damit sind wir wieder bei den Fragen, denen wir schon zu Beginn meines Vortrags begegnet sind – wie kam der Urknall zustande und was war davor – auf die wir keine befriedigende Antwort wissen. Dann aber gibt es Beobachtungen, die nicht – oder jedenfalls nicht so einfach – mit einer Zunahme der Entropie zu erklären sind. Diese würde jedenfalls erwarten lassen, dass sich die Materie gleichmäßig über den gesamten verfügbaren Raum ausbreitet, ebenso wie die Parfümmoleküle nach öffnen der Flasche. Das aber ist nicht der Fall. Die Materie klumpt sich vielmehr in Galaxien zusammen und diese wiederum bilden Galaxienhaufen, dazwischen aber liegen riesige leere Räume. Insgesamt bereitet die Schwerkraft große Schwierigkeiten, sie mit den Gesetzen der Thermodynamik zu verknüpfen. Jedenfalls wissen wir zur Zeit noch nicht, wie sich das Universums wirklich entwickelt hat und wie es sich weiter entwickeln wird. Allem Anschein nach hat es auch hier in der Vergangenheit einen gesetzmäßigen Ablauf gegeben, der durch einen Zeitpfeil beschrieben werden kann. Ob dieser sogenannte „kosmische Zeitpfeil“ mit dem thermodynamischen gleich zu setzten ist oder nur Ähnlichkeiten aufweist, ist jedenfalls eine noch offene Frage. Einige Kosmologen sind sogar der Auffassung, der kosmologische Zeitpfeil sei die treibende Kraft hinter allem und bedinge auch den thermodynamischen Zeitpfeil, denn im Urknall seien alle physikalischen Gesetze bereits festgelegt worden. Das klingt nicht unvernünftig, entbehrt aber einer tieferen Begründung. Persönlich halte ich diese Spekulation für nicht zielführend, wenn es um die Frage geht, warum alle Lebewesen altern. Dieses biologische Altern ist durch chemische Abläufe bedingt, die fast ausschließlich durch elektrodynamische Kräfte gesteuert werden, so dass die Gravitation, so bedeutsam sie auch für die Entwicklung des Kosmos sein mag, hier nicht zum Tragen kommt.
Meine Damen und Herren,
Mit diesem Überblick möchte ich meinen Ausflug in das weite Feld der Zeit beenden. Es könnte sein, dass Sie sich jetzt in einem Zustand größerer Verwirrung als zu Anfang befinden. Dann hoffe ich, dass sich zumindest das Niveau Ihrer Verwirrung gehoben hat.
Mir ist auch bewusst, dass ich in diesem Vortrag die schöne Zeit wie eine weiche Kokosnuss zerteilt habe. Aber ich klage weder den großen Geist noch Sie dafür an, dass man mir nicht noch mehr davon gegeben hat. Im Gegenteil, ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir so viel von Ihrer Zeit am heutigen Abend geschenkt haben.